Bericht

Jürgen Trittin über die politische Entwicklung der Linken und die Kunst des Kompromisses

 

Auf der Frankfurter Buchmesse reflektiert der Grünen-Politiker Jürgen Trittin seine politischen Anfänge, die Entwicklung der Neuen Linken in Deutschland, und seine Ansichten zu aktuellen Herausforderungen in der Demokratie. Trittin beschreibt seinen Weg von einem Aktivisten der außerparlamentarischen Opposition in den 1970er-Jahren bis hin zu seiner Rolle in der rot-grünen Bundesregierung und betont dabei die Notwendigkeit eines starken Staates sowie die Komplexität moderner politischer Kompromisse.

Die Neue Linke und die Abgrenzung zum Stalinismus

Trittin skizziert zunächst die Veränderungen in der linken Bewegung nach 1968, die maßgeblich vom Bruch mit der Sowjetunion und dem Aufstand des Prager Frühlings beeinflusst wurden. Diese Distanzierung zur Sowjetunion war eine Antwort auf die territorialen Ansprüche und die Einschränkung von Souveränität, die die Sowjetunion gegenüber Osteuropa ausübte. „Die Neue Linke, die sich nach ’68 gebildet hat, war eine Neue Linke, die sich bewusst auch gebildet hat in Abgrenzung zu den territorialen Ansprüchen und der Einschränkung von Souveränität, die die Sowjetunion gegenüber Osteuropa ausgeübt hat.“

In der Reflexion seiner Zeit als Mitglied des Kommunistischen Bundes erinnert sich Trittin an die Diskussionen innerhalb der maoistischen Gruppen über die Rechtfertigung des Vietnamesisch-Kambodschanischen Krieges, als die vietnamesische Armee das brutale Regime der Roten Khmer beendete. Während Trittin und seine Mitstreiter dies als eine notwendige Intervention sahen, lehnten andere maoistische Gruppen eine derartige Einmischung ab, was schließlich zu einem Bruch führte.

Die ersten Erfahrungen mit politischem Pragmatismus

Auch der Weg Trittins zu den Grünen war von pragmatischen Entscheidungen geprägt. Zu einer frühen Lektion in der Kunst des Kompromisses kam es, als er an der Besetzung von zwei leerstehenden Gebäuden an der Universität Göttingen beteiligt war, um Wohnraum für Studierende zu schaffen. Nach sechs Monaten konnte ein Kompromiss ausgehandelt werden, der zwar nur Platz für etwa 360 der 850 Studierenden bot, aber den Großteil der Besetzung beendete. Trittin erinnert sich: „Mir ist es lieber, ich nehme die 360 mit.“ Diese Erfahrung prägte seinen Ansatz, in Konflikten verhandelbare Lösungen zu finden.

Der Unterschied zwischen einem politischen Projekt und einer politischen Notwendigkeit

Trittin hebt hervor, dass die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP unter anderen Voraussetzungen arbeitet als frühere Regierungskoalitionen, besonders die rot-grüne Koalition von 1998. „Rot-Grün war damals, als sie 1998 die Wahl gewonnen haben, ein Projekt. Die Ampel ist gewissermaßen nie ein richtiges, erfolgreiches Projekt gewesen, konnte es vielleicht nie sein.“ Als eine sogenannte „lagerübergreifende Dreier-Koalition“ verlangt sie mehr Zugeständnisse und komplexere Kompromisse, was von der Bevölkerung jedoch immer weniger toleriert wird. Diese Diskrepanz stellt laut Trittin eine Herausforderung für die Zukunft der Demokratie dar, da Kompromisse notwendig sind, aber gleichzeitig von Wählern kritisch betrachtet werden.

Die Entkoppelung von Sachpolitik und öffentlicher Wahrnehmung

Einer der prägnantesten Punkte im Interview ist die Entkoppelung von Sachpolitik und öffentlicher Wahrnehmung. Trittin erwähnt das Heizungsgesetz von Robert Habeck als Beispiel: „Das ist ja im Kern genau so […] Es ist mit Verzögerungen, es ist etwas bürokratischer geworden […], aber im Kern ist es so geblieben.“ Trotz der Umsetzung wird das Gesetz jedoch in der öffentlichen Meinung als Symbol für das Scheitern der Ampelregierung wahrgenommen. Diese Abkopplung politischer Realität von öffentlicher Wahrnehmung sieht Trittin als wachsendes Problem: „Es ist, dass niemand mehr erkennt, was dann der Kompromiss ist.“

Das Risiko von Fake News und die Rolle der Medien

Besonders besorgt zeigt sich Trittin über die Rolle, die gezielte Falschinformationen und populistische Aussagen in diesem Kontext spielen. Er kritisiert unter anderem Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, der mit Behauptungen über die Grünen eine verzerrte Wahrnehmung befeuere. „Er hat sich hingestellt und immer behauptet, die Grünen wollten den Leuten vorschreiben, was sie zu essen haben […] Es wird durch permanente Wiederholung wird die Lüge irgendwann geglaubt.“ Diese Entkopplung von Fakten und öffentlicher Wahrnehmung, so Trittin, sei eine Steilvorlage für „die Fake-News getriebene Propaganda der Faschisten.“

Die Verteidigung der Demokratie und die Frage eines AfD-Verbots

Zum Schluss des Interviews spricht Trittin über seine Position zur wehrhaften Demokratie und das potenzielle Verbot der AfD. Während seine politische Karriere als Aktivist von der Forderung nach einer Veränderung des Staates geprägt war, sieht er heute den Schutz der Demokratie als zentrale Aufgabe. Er verweist auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das eine neonazistische Gesinnung der NPD feststellte, sie jedoch aufgrund ihrer geringen politischen Bedeutung nicht verbot. Im Falle der AfD sei die Lage jedoch komplexer, da die Partei heute teilweise ein Drittel der Wähler in bestimmten Regionen mobilisiert.

Trittin hebt hervor, dass ein Verbot kein einfacher Schritt sei, aber er hält es für wichtig, sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen: „Das ist nichts, was man in Talkshows machen kann. Das müssen die Sicherheitsbehörden und Ähnliches machen.“

Mit einem kritischen Blick auf die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte fordert Trittin ein neues Verständnis für die politische Realität, in der Kompromisse und ein starker Rechtsstaat eine entscheidende Rolle spielen. „Wir dürfen den Feinden der Demokratie keinen Raum geben“, betont er abschließend.