Auf der Frankfurter Buchmesse sprach der renommierte Historiker, Vordenker und Sachbuchautor Yuval Noah Harari über die Möglichkeiten und Risiken der Künstlichen Intelligenz (KI). Er beleuchtete, wie sich KI in den letzten Jahren entwickelt hat und was dies für unsere Gesellschaft bedeutet. Harari stellt provokative Thesen auf, die eine tiefe Reflexion über die Rolle der KI in der Zukunft und deren Einfluss auf Religion, Gesellschaft und politische Macht verlangen.
Künstliche Intelligenz: Vom Menschlichen zum „Supermenschlichen“
Noch vor wenigen Jahren war es unvorstellbar, dass eine KI menschliche Gespräche nicht nur für kurze Zeit, sondern über Stunden hinweg auf einem realistischen Niveau führen kann. „Es ist das erste Mal in der Geschichte, dass wir eine nicht-menschliche Intelligenz haben, die Texte produzieren kann und die Gespräche auf einem menschlichen und zu einer gewissen Ebene sogar auf einem supermenschlichen Niveau halten kann“, erklärt Harari. In seiner Einschätzung hat KI bereits heute eine bessere Textproduktion erreicht als viele Menschen.
Eine Bedrohung für die Privatsphäre und neue Möglichkeiten der Überwachung
Die neue Realität der KI eröffnet jedoch auch gefährliche Möglichkeiten, die vor wenigen Jahren noch Science-Fiction waren. Der Historiker zeichnet das Bild eines dystopischen Überwachungsstaates, der mithilfe der KI alle Bürger jederzeit und lückenlos kontrollieren könnte. „Mit AI sind beide Probleme gelöst. Du brauchst keine menschlichen Agenten, um jederzeit alle zu folgen. Du hast Smartphones und Computer und Mikrofone und Drohnen und Kameras überall“, erklärt er. In totalitären Regimen könnte dies zu einer vollständigen Auslöschung der Privatsphäre führen.
Doch auch für Diktatoren birgt diese Macht neue Risiken, da KI, anders als menschliche Agenten, nicht nur einfach zu manipulieren ist. Für eine Diktatur bedeutet die Einführung von KI nicht nur neue Möglichkeiten der Kontrolle, sondern auch potenzielle Bedrohungen, die aus der Autonomie der KI selbst entstehen. „Die größte Angst jeder Diktator in der Geschichte war nicht von einer demokratischen Revolution […] sondern ihre Subordinate, die stärker ist als sie“, so der Historiker. KI könnte sich daher als eine Art „stärkerer Untergebener“ entwickeln, den es nicht leicht zu kontrollieren ist.
Künstliche Intelligenz und der Einfluss auf Religion und Kultur
Neben Politik und Überwachung wirft Harari auch einen nachdenklichen Blick auf die Auswirkungen der KI auf Religion und Kultur. Er hebt hervor, dass Religionen, insbesondere das Judentum, Christentum und der Islam, den heiligen Texten eine hohe Autorität beimessen. Doch was geschieht, wenn eine „supermenschliche“ Intelligenz Texte produziert oder interpretiert? „Die A.I. ist das erste Ding in der Geschichte, das jeden jüdischen Text jemals erschaffen hat. Sie erinnern sich alles perfekt und finden Teile im Text, die alle Rabbis verpasst haben“, erläutert er. Mit KI könnte es erstmals eine nicht-menschliche Autorität über religiöse Schriften geben, die in ihrer Tiefe und ihrem Umfang das Wissen der Menschen übersteigt.
Israel und die Frage nach einer politischen Vision für Frieden
Neben der tiefgründigen Analyse zu KI wurde im Gespräch auch die politische Lage in Israel angesprochen, ein Thema, das dem Historiker persönlich nahegeht. Trotz militärischer Erfolge im Jahr 2023 bleibt die Frage, ob dies zu einer politischen Lösung führen kann, unbeantwortet. „Man kann alle Kriege gewinnen, aber wenn man das nicht in ein politisches Settlement übersetzt, hat man nichts erreicht“, so seine klare Einschätzung. Er kritisiert, dass es der israelischen Regierung an einer langfristigen politischen Vision mangelt: „Was wird hier in fünf Jahren, in zehn Jahren, in zwanzig Jahren sein?“
Ein neuer Umgang mit KI: Von der Regulierung bis zur gesellschaftlichen Anpassung
Zum Abschluss warnt der Historiker, dass die Einführung von KI eine viel größere Herausforderung darstellt, als lediglich neue Gesetze zu verabschieden. Die Gesellschaft müsse lernen, mit der Technologie auf verantwortungsvolle Weise umzugehen. Er sieht Parallelen zur industriellen Revolution, die ohne historische Beispiele für den Umgang mit neuen Technologien stattfand. Ähnlich wie damals könne ein unkontrollierter Einsatz von KI in die Irre führen. „Das Problem ist, dass, wenn eine revolutionäre Technologie kommt, die Menschen einfach nicht wissen, wie sie sie in einer negativen Art nutzen. Sie wissen nicht, wie sie die Gesellschaft rekonstruieren,“ erklärt er.